von Michael Tiedtke 

(Völlig unerwartet verstarb unser Freund und Kollege Dr. Michael Tiedtke im Frühjahr 2020. Über viele Jahre haben wir mit ihm in unzähligen Kolloquien und Workshops Protokolle sozialer Praxis analysiert. Seine Leidenschaft galt der Rekonstruktion der Logik sozialer Systeme und damit verbunden dem Verstehen der „Eigentümlichkeiten“ sozialer Praxis. Als Wissenschaftler und durch und durch Objektiver Hermeneut war er Mentor, Sparingspartner, systematischer Querdenker im Krisengebiet zwischen Forschung und Beratungspraxis sowie Partner von p+o. Wir vermissen ihn. Den folgenden Text hat er 2013 für die Zeitschrift Supervision verfasst.)

Der Jurist, Verwaltungswissenschaftler und Soziologe Niklas Luhmann hat in den mehr als 30 Jahren seines Schaffens den Versuch unternommen, grundlegende Fragen und Konzepte der Soziologie systemtheoretisch zu reformulieren. Systematisch begründet und thematisch erprobt wurde dieses Vorhaben in mehr als 10 Monografien (zum Recht, zur Wirtschaft, zur Wissenschaft, zur Kunst, zur Umwelt, zum Erziehungssystem, zu Organisationssystemen und zur „Gesellschaft der Gesellschaft“) sowie in unzähligen Aufsätzen („Soziologische Aufklärung“) und Fallstudien („Sozialstruktur und Semantik“). Im Ergebnis hat uns Luhmann ein wissenschaftliches Theoriegebäude hinterlassen, das sich primär auf innerwissenschaftliche und also theorieinterne Probleme bezieht.

Systemtheorie war nicht für die Praxis gedacht 

Die soziologische Systemtheorie ist also nicht als Leitwissenschaft für irgendeine „Praxis“ konzipiert, sondern folgt ihren eigenen internen Präzisions- und Konsistenzansprüchen. Darin ist sie der Mathematik vergleichbar, deren Ergebnisse (Axiome, Sätze, Formeln und Kalküle) zwar „praktisch“ genutzt werden können, die sich aber als spezifische Denkkultur und Sondersprache nicht an Problemen der empirischen Welt abarbeitet und intern ausdifferenziert, sondern mit selbst erzeugten Problemen und „idealen“ Objekten beschäftigt ist. Die Mathematik gilt als die „Königin“ der Wissenschaft, ohne selbst eine solche zu sein. Niemand wird ihr vorwerfen, daß die Geltungsgründe für den Wahrheitsanspruch ihrer Sätze nicht „empirisch“, sondern rein theorieimmanent-logischer Natur sind. Sie ermöglicht zwar Erkenntnisse über die Welt, liefert aber selbst keine.

Luhmann hatte keine theoretische Begründung systemischer Beratung im Sinn

Akzeptiert man diesen für eine Theorie der Gesellschaft ungewöhnlichen Vergleich in Bezug auf Luhmanns soziologische Systemtheorie, dann ist der gängige Vorwurf obsolet, sie lasse sich nicht empirisch widerlegen oder sie sei „praktisch“ nicht anwendbar. Dies einzusehen, setzt jedoch ihre immanente Würdigung voraus. Eine Voraussetzung, die selbst fachintern in der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin nicht selbstverständlich ist. Auch hier finden sich zahlreiche Bemühungen um „anwendungsorientierte“ Rezeption und Modernisierung des Luhmannschen Erbes.

„Systemischer“ Insiderjargon als Inklusionsmittel und distinktes Alleinstellungsmerkmal 

Ein grundlegendes Missverständnis „systemischer“ Beratung könnte also darin bestehen, Luhmann habe eine theoretische Begründung für derartige verberuflichte Praxis entworfen oder im Sinn gehabt. Diese Auffassung greift auf die vage und vortheoretisch-mythische Vorstellung zurück, derzufolge alles mit allem zusammenhänge. Man assoziert diese metaphorisch mit dem im 19. Jahrhundert etablierten Begriff des „Systems“ und kodifiziert damit die Selbstbeschreibung der eigenen Praxis. Im Ergebnis etabliert und legitimiert sich eine in diesem Sinne „systemische“ Variante der Beratung, indem sie sich von anderen (psychoanalytischen, kommunikativen, handlungsorientierten etc.) Varianten konkurrierender Praktiken symbolisch unterscheidet und „praktisch“ abgrenzt. Dieses Manöver mag zwar die intensive Assimilation systemtheoretischer Begrifflichkeit motivieren, in deren Folge sich eine besondere Expertensprache herausbilden kann.

„Systematische Begriffe“ beeindrucken Kunden und verunsichern Konkurrenten 

Ob damit ein spezifisches Medium zur sach- und problemadäquaten präzisen Verständigung und Reflexion unter professionellen Experten geschaffen wird, sei dahin gestellt[2]. Auf jeden Fall dient ein „systemischer“ Insiderjargon als Inklusionsmittel und distinktes Alleinstellungsmerkmal auf dem Beratungsmarkt, das potenzielle Kundschaft hinreichend beeindruckt und Konkurrenten verunsichert. Ein solches Manöver der Selbsterzeugung einer „Schule“ ist nicht notwendig mit der Akkomodation ihrer „Praxis“ an die wissenschaftliche Systemtheorie verbunden. Denn das würde bedeuten, daß die „Praxis“ sich in Wissenschaft transformieren müsste. Ihr Geschäft wäre dann nicht mehr „Beratung“, sondern Arbeit an der Theorie und die Erzeugung neuen Wissens durch Forschung.

Gewinn an „Komplexität und Tiefenschärfe des Problembewusstseins“

Nicht ausgeschlossen ist jedoch, dass es den „systemischen“ Beratern mit der Luhmannschen Systemtheorie ähnlich ergeht wie Leuten, die noch Jahre nach Schule oder Studium in ihrer Freizeit (also neben ihrer beruflich-praktischen Erwerbsarbeit) mit Begeisterung über mathematischen Problemen wie „Fermats letztem Satz“ grübeln oder die ihr Leben lang noch in der Lage sind, lateinische Inschriften oder gar ganze Texte mit Gewinn zu lesen. Doch  worin könnte dieser „Gewinn“ liegen?

Für sein Theorieangebot gibt Luhmann in vielen seiner Texte eine Antwort, die ambitionierte Praktiker regelmäßig enttäuschen dürfte. Im Bewusstsein der allgemeinen Erwartung, die Soziologie solle doch etwas zur praktischen Lösung der akuten gesellschaftlichen Probleme beitragen, wird man regelmäßig mit dem Hinweis beschieden, die ausgeführten Überlegungen böten zwar keine Lösung der behandelten Probleme, aber der Gewinn an „Komplexität“ und „Tiefenschärfe des Problembewußtseins“ sei nicht gering zu schätzen.

„Sehen – Beobachten – Beobachter“

Genau darin liegt möglicherweise die Attraktivität der Luhmannschen Systemtheorie für Leute, die beruflich mit komplexen sozialen Verhältnissen, ihrer Beobachtung, Beschreibung oder gar Beeinflussung zu tun haben. Die Wirkung intensiver Luhmannlektüre ist mit der Lektüre mathematischer Abhandlungen vergleichbar, die man sich im vollgültigen Sinne erarbeitet hat: Sie verändert das Denken derart, daß es kaum noch möglich ist, hinter die gewonnene „Einsicht“ zurück zu gehen, wenn man einen Beweis hier, eine luzide Argumentation und die Dekonstruktion evidenter Vorstellungen[3] dort nachvollzogen und im vollgültigen Sinne verstanden hat. Es ist, als ob man eine neue Brille aufsetzt und die Welt (und also auch sich selbst) plötzlich viel schärfer, wie mit „anderen Augen“ sieht und sich nicht mehr vorstellen kann, auf diese gewonnene Sehschärfe verzichten zu wollen. Ich möchte das an dem Vorstellungskomplex „Sehen – Beobachten – Beobachter“ erläutern. Das legt nicht nur dessen offenkundige Relevanz für beratende, supervisorische und soziale berufliche Tätigkeiten nahe, sondern auch der Umstand, daß Luhmanns gesamtes Theoriegebäude strikt beobachtungstheoretisch begründet ist, wir damit also ein zentrales Theoriestück aufgreifen. Im Rückgriff auf ein mathematisches Kalkül von George Spencer-Brown entwickelt Luhmann eine zentrale methodologische Prämisse seiner Arbeit, die weitreichende Konsequenzen hat.

„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde

Es handelt sich um das sogenannte Formen-Kalkül, das mit der berühmten ersten konstruktiven Anweisung (sic!) beginnt “Draw a distinction and mark it“.[4] Der ungeschulte Kopf wird dem mathematischen Gedankengang bei der Entfaltung des Kalküls bis zur Aufhebung des die zweiwertige Logik fundierenden Satzes vom ausgeschlossenen Dritten im Originaltext nur mit Mühe folgen können. Aber die mit diesem Kalkül formulierte Paradoxie allen Beobachtens, daß man zwischen der beobachteten „Welt“ und der Welt der „Beobachtung“ nicht eindeutig unterscheiden kann, läßt sich auf einfache Weise nachvollziehen. Dafür bietet das Alte Testament eine überraschend anschauliche  Verständnishilfe. Im Ersten Buch Mose wird der Anfang der Welt so erzählt, als folge es dem Spencer-Brownschen Kalkül[5]. Bevor Gott mit seinem Werk beginnen kann, richtet der Erzähler die Szenerie ein, wofür er notwendig Unterscheidungen benutzt. „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Ignoriert man einmal die Erwähnung Gottes als Schöpfer, um die Sachlage nicht unnötig kompliziert zu machen, so ist die erste Unterscheidung, mit der alles beginnt, die von „Himmel und Erde“. Der Text kümmert sich im Folgenden um den Zustand der Erde, die Ausmalung des Jenseits und die Erforschung des Himmels wird späteren Kapiteln und künftigen Professionen überlassen. Die Erde beschreibt der Erzähler als „wüst/…“, „leer“/…, „finster“/…, „Tiefe“/…. Mit den Zeichen hinter den zitierten Worten soll auf den Umstand aufmerksam gemacht werden, daß hier weitere Unterscheidungen ins Spiel gebracht werden, jedoch nur mittels der je bezeichneten Seite. Die Namen gewinnen ihre jeweilige Bedeutung jedoch nur vor dem Hintergrund der mitgeführten aber unbezeichneten Seite, die wir als Leser immer mit aktualisieren müssen, um den Sinn des geschriebenen Wortes erschließen zu können.

Sensibilisiert dafür, auf welch elementare Weise unsere Vorstellungen vom Urzustand der Welt in uns evoziert werden, könnte ein Bibelleser nun auf die Idee kommen, die Welt war im Anfang ein gigantischer Wassertropfen, denn am Ende der einleitenden Beschreibung der Erde heißt es: „…und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“

So weit, so anthropozentrisch. Wir fragen uns also nicht, woher der Autor sein Wissen über diese archaische waterworld hat und von wo aus er oder seine „Quelle“ das Geschehen beobachtet haben könnte.[7] Der uns überlieferte Text ist für unsere Zwecke instruktiv genug, denn jetzt beginnt sein Schöpfergott mit seinem Werk und der tut das primär mit Hilfe des Wortes: „Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht.“ Das Geheimnis, wie ein Wort solche kausalen Effekte haben kann, mag für heutige technikaffine Generationen keines mehr sein, kann man doch einem Smartphone oder anderen Gerätschaften mit Worten befehlen, etwas zu „tun“, ohne verstehen zu müssen, wie das funktioniert. Das Geheimnis Gottes hingegen muß man glauben. Rein logisch erschafft seine erste Unterscheidung als Form die gesamte „Welt“. Doch damit nicht genug. Im zweiten Schritt wird das soeben geschaffene Licht bewertet: „Und Gott sah, daß das Licht gut war.“ (Und also: nicht schlecht.). Der nunmehr erleuchtete Möglichkeitsraum wird positiv hervorgehoben und gegenüber der anderen, dunklen Seite der Unterscheidung bevorzugt.[8] Die kommt nun im dritten Schritt ins Spiel: „Da schied Gott das Licht von der Finsternis …“. Das Schöpfungswerk des ersten Tages wird abgeschlossen mit der Bezeichnung der beiden Seiten durch verschiedene Namen: „… und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht.“ Spencer-Brown nennt diesen Schritt in seinem Kalkül „condensation“ der erzeugten Form, weil die erneute Nennung des Namen keinen neuen Wert ergibt.[9]

Neben dieser verblüffenden Parallele zwischen biblischer Schöpfungsgeschichte und mathematischem Formenkalkül beginnt das intellektuelle Vergnügen, wenn einem auffällt, daß in der biblischen Erzählung zwei Unterscheidungen zugleich im Spiel sind: Licht/Finsternis und Tag/Nacht.

Die erste ist die des Erzählers, die zweite wird dem Schöpfergott zugeschrieben. Die „Welt“ wird also uno actu zwei mal erschaffen und immer im Medium der Sprache. Aber damit nicht genug: Einmal in Gang gesetzt, erzeugt die sequenzielle Fortsetzung bezeichnender Unterscheidungen weitere unterscheidende Bezeichnungen, die binnen weniger Sätze ein komplexes Netz von Verweisungen auf Verweisungen erzeugen, welche im gedanklichen Nachvollzug in der Vorstellung des Lesers eine „Welt“ evozieren, deren Bedeutungsdichte mit jener korrespondiert, die wir mit Luhmann die sinnstrukturierte Welt des Sozialen nennen. Es ist dies eine Wirklichkeit, in der Beobachter Beobachter beobachten, die ihrerseits dabei beobachtet werden. Diese Paradoxie löst Luhmann theoretisch mit der Unterscheidung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung. Diese Hierarchisierung markiert nicht soziale Überlegenheit oder größeren Wahrheitsgehalt. Beobachtungen erster Ordnung sind naiv operierende Fremdreferenzen, Beobachtungen zweiter Ordnung sind differenzbewußte Beobachtungen von Beobachtungen. Löst man den Beobachtungsbegriff konsequent vom „sehenden“ Menschen und universalisiert ihn für jegliche Art sinnhaft operierender Unterscheidung, dann bekommt man eine Vorstellung vom analytischen Potenzial dieses Konzepts, das den Weltverhältnissen adäquater ist, als traditionelle anthropozentrischen Theorien.

Folgt man also der Prämisse, derzufolge jedes Beobachten die operative Einheit von Unterscheiden und Bezeichnen ist, dann lernt man jeden bezeichnenden Gebrauch einer Unterscheidung und jeden unterscheidenden Gebrauch einer Bezeichnung als Beobachtung zu verstehen.

Damit wird das Konzept der Beobachtung von seiner evidenten „natürlichen“ Bindung an den Gesichtssinn und an das „Sehen“ als neurophysiologischen Wahrnehmungs- und bewußtseinsmäßigen Verarbeitungsprozeß befreit. Er steht nunmehr auch(!) für die Klärung sozialer Sachverhalte zu Verfügung, die an abstraktere kommunikative Ereignisse gebunden sind. Dann kann man auch die „Börse“ als Beobachter des Wirtschaftssystem analysieren.

Für eine Theorie der Supervision, des Coachings oder der Organisationsberatung dürften diese Überlegungen von erheblicher Bedeutung sein.

Sowohl für das Selbstverständnis ihrer eigenen Beobachterposition als auch hinsichtlich ihres  Gegenstandsbereiches, den sie ja mit eigenen Unterscheidungen zunächst konstituiert. Genau darin könnte der Effekt liegen, den man geläufig „Intervention“ nennt. Methodisch folgt aus dem Gesagten, daß die Analyse des Interaktionsgeschehens in einer Gruppe nicht mehr allein von der Frage geleitet wird, WAS die Beteiligten tun oder sagen, sondern WIE das geschieht. Dabei ginge es nicht um die geläufige Unterscheidung zwischen Sach- und Beziehungsaspekts einer Mitteilung. Das Interesse verlagerte sich vielmehr auf die basalen Unterscheidungen, durch die sich das Geschehen selbst strukturiert. Dies mag in unmittelbaren Interaktionskontexten der Beratungspraxis schwieriger sein als bei der Analyse von Protokollen sozialer Praxis. Deren methodisch kontrollierte Analyse[10] kann sich handlungsentlastet an der Textförmigkeit der Protokolle orientieren und die sequenzielle Folge von Unterscheidungen erschließen, in deren Ergebnis sich die latente Sinnstruktur einer sozialen Praxis rekonstruieren läßt. Die Konsequenz könnte man schließlich für die Lektüre jedes Textes ziehen.

Man fragt dann nicht mehr, WAS sich der Autor[11] wohl gedacht hat, sondern WIE er das tat, und prüft dies textbezogen.

Nimmt man seinen Text als Protokoll seines Denkens, wird sich dessen Erschließung durch die Frage leiten lassen, mit welchen Unterscheidungen der Text/Autor arbeitet. Man gewinnt damit ein Sensorium für die innere Stringenz von Texten und kann komplizierte Gedankengänge auf die ihnen zugrunde liegende Kombination mannigfaltiger aber nicht beliebiger Unterscheidungen zurückführen. Wer so zu lesen lernt, löst sich mithin von der nicht entscheidbaren Frage, ob eine Aussage mit der „realen, objektiven Welt“ übereinstimmt und „wahr“ ist. Man wird damit zugleich frei für den Blick auf theoretische Alternativen, weil man nicht mehr umhin kommt, alle Unterscheidungen als Selektionen aus einem Möglichkeitsraum zu sehen, die immer auch anders gewählt werden können.

Mit diesem Beobachtungskonzept kommt zugleich eine weitere Pointe der Luhmannschen Theorie ins Spiel, die in ihrer Rezeptionsgeschichte nachhaltig für Irritation und Ablehnung gesorgt hat. Gemeint ist die strikte Unterscheidung von sozialen und psychischen Systemen.

Sie sind hier als Einheiten konzipiert die zwar wechselseitig für einander Umwelten sind, sich aber operativ nicht erreichen können. Systeme sind beide Arten insofern, als sie sich der Unterscheidung von ihrer Umwelt verdanken, die sie selbst operativ vollziehen. Soziale Systeme sind charakterisiert durch Kommunikation als Operationsmodus, psychische Systeme hingegen durch Bewußtsein. Erst mit dieser radikalen Unterscheidung zweier operativ geschlossener Systemtypen taucht die Frage auf, wie man sich das Zusammenspiel von Kommunikation und Bewußtsein eigentlich erklären kann. Das mag Praktiker und Alltagsmenschen irritieren, denn es handelt sich um ein Problem, dessen Konsequenzen sie allenfalls erahnen mögen, aber nicht in dieser Schärfe sehen können, weil es durch die Alltagssprache und unsere Wahrnehmungsgewohnheiten „gelöst“ (besser: illusionär verhüllt) wird. Was aus einer solchen theoretisch induzierten Irritation des Denkens praktisch folgt, ist ungewiß, aber moralisch entrüstete Ablehnung ist nicht die einzige Option. Luhmanns Theorie ist enttäuschend, weil sie nicht fragt, was man tun kann, um die Welt zu ändern oder gar zu retten. Ihr geht es statt dessen um die radikalere Frage, wie man erklären kann, daß sie fortbesteht. Wer diese Art zu denken schätzt, wird habituell eher zum Respekt vor der Eigendynamik und Komplexität gesellschaftlicher und psychischer Phänomene neigen. Praktisch tendiert man dann wohl eher zur Zurückhaltung gegenüber kausalen Änderungshoffnungen und entsprechenden Versprechen.

[1]Damit ist nichts gegen die Arbeiten von Peter Fuchs, Dirk Baecker, Armin Nassehi oder René Kieserling und anderen Schülern gesagt, obwohl sich manche von ihnen nicht nur im streng akademischen Raum bewegen und das theoretische Erbe ihres Lehrers nicht nur als Klassisches tradieren, sondern auch produktiv weiter treiben, popularisieren und „praktisch“ zu nutzen versuchen.

[2]In Luhmanns Diktum hieße das, die Systemtheorie wandelte sich zu einer „Reflexionstheorie“ der Beratung, die zwar aus historischen Gründen als akademische Lehr-Disziplin gepflegt würde, doch Ihre Leistung im Beratungssystem zu erbringen hätte, das sich seinerseits zu einem „Funktionssystem“ der Gesellschaft ausdifferenziert hätte. Eine Option die nicht sehr wahrscheinlich ist, wie die Beiträge dieses Heftes belegen.

[3]Um nur an das zentrale Skandalon zu erinnern: daß die Gesellschaft nicht aus Menschen „bestehe“.

[4]In der deutschen Übersetzung von Thomas Wolf: „Triff eine Unterscheidung.“ „Nenne sie die erste Unterscheidung“ („Laws of Form“, Bohmeier Verlag, Lübeck 1997, S. 3).

[5]Oder hat Spencer-Brown von der Bibel abgeschrieben?

[6]Spencer Brown nennt diese andere Seite der Unterscheidung den „unmarked space“. Luhmann bezeichnet dies in Anlehnung an bewußtseinsphilosophische Überlegungen Edmund Husserls als den „Welthorizont“, vor dem ein je konkretes Ereignis in seiner  Selektivität, seinem Ausgewählt-worden-Sein beobachtbar wird und als sinnhaftes kommunikatives Ereignis (Handeln) oder psychisches Ereignis (Erleben) interpretiert werden kann. „Sinn“ ist deshalb für Luhmann auch ein „Grundbegriff der Soziologie“. (Siehe den Aufsatz mit diesem Titel in: Jürgen Habermas, Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, S. 25-100)

[7]Wir sehen uns in unserem Zweifel aber durch Spencer-Brown-Lektüre in der Vermutung bestärkt, daß man durch Erzählungen nichts über die Welt erfährt.

[8]Ob diese deshalb auch schlecht ist, wird man sich vielleicht fragen, und wenn ja, warum?

[9]Laws of Form, a.a.O., S. 4 ff.

[10]Wie sie z.B. in der Interpretationstechnik der „Objektiven Hermeneutik“ als Methode sozialwissenschaftlicher Forschung und professioneller Selbstaufklärung kultiviert wird. (vgl. Andreas Wernet: Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik, VS Verlag, Wiesbaden 2006²)

[11]z.B. der Genesis des AT