Gibt es ‚verlässliche‘ Kriterien, an die man sich halten kann? Soll man sich anpassen? Und wenn ja, woran und wie weitgehend?

Ronny Jahn & Andreas Nolten (2018). Berufe machen Kleider. Dem Geheimnis berufsspezifischen Anziehens auf der Spur.

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. ISBN: 978-3-525-40625-0

Rezension von Ewald E. Krainz

Hermeneutik ist die Kunst der Sinndeutung. Bezieht sie sich auf Geschriebenes, spricht man von Texthermeneutik, einem Unterfangen, die Bedeutung von Geschriebenem zu verstehen, sowohl des explizit bewusst Gesagten als auch des häufig unbewussten Impliziten, dessen, was zwischen den Zeilen steht. Die Aufmerksamkeit der Autoren gilt in diesem Buch der Kleidung, mit einem besonderen Augenmerk auf die Trainings- und Beratungsbranche. Sie haben damit einen neuen Zweig der Verstehenslehre angeregt, zur Texthermeneutik gesellt sich nun – pardon the pun – die ‚Textilhermeneutik‘.

Wer hätte nicht schon überlegt, wie man sich zu einem Klienten-Termin anziehen soll?

Und wenn man auf die Klienten trifft, sind die auch irgendwie gekleidet. Und schon geht es los mit den möglichen Fragen: ‚Stimmt‘ die Kleidung? Gibt es ‚verlässliche‘ Kriterien, an die man sich halten kann? Soll man sich anpassen? Und wenn ja, woran und wie weitgehend? Wieviel Individualität (als Abweichung von einer tatsächlichen oder phantasierten Norm) kann man sich erlauben? Erhöht das die Glaubwürdigkeit eines Trainers, einer Beraterin, oder kommt sofort latent die Frage auf „wie kommt der/die daher“? Ohne viele Gedanken darauf zu verwenden glaubt man häufig zu spüren, was ‚angesagt‘ ist.

Krawattenträger-Kulturen

So gibt es z.B. ausgesprochene Krawattenträger-Kulturen. Im oberen Management findet man kaum (männliche) Personen, die nicht irgendwie ‚uniform‘ wirken. Hat man mit solchen zu tun, kann es schon sein, dass man da einen gewissen Zwang verspürt sich auch einen Schlips umzubinden. Den Zwang scheinen auch viele Krawattenträger selbst zu verspüren, sonst würden sie nicht den Eindruck erwecken, sie hätten einen Besenstiel verschluckt, speziell wenn sie in ihrem Status noch nicht eingeübt sind. Ist man dagegen in einem OE-Projekt engagiert, ist die Grenze zwischen Oberschicht und Unterschicht zu beachten, die sich (mindestens in Produktionsbetrieben) auch in der Kleidung ausdrückt – ‚blue collar‘ unten, ‚white collar‘ oben. Kommt man Meistern ‚krawattiert‘, kann es schon sein, dass man ‚denen da oben‘ zugerechnet wird, und vorbei ist es mit der angestrebten Neutralität, imagemäßig. Ganz daneben wäre ein ‚Oberschichtkostüm‘ auch, wenn man in einem pädagogischen oder sozialarbeiterischen Kontext zu tun hat. Hier zählen Werte wie Kreativität, Freude an der Entwicklung, Achtung vor dem Leben und der Umwelt usw. Also passen weder weiße Hemden mit Krawatten, noch Businesskostüme oder Anzüge.

Was will man eigentlich?

In jedem Fall möchte man ‚seriös‘ wirken, ‚professionell‘, ‚vertrauenswürdig‘, was immer kontextabhängig ist. Zwar zeigen sich solche Qualitäten erst in den Interaktionen und wenn es um etwas geht, aber da hat man schon durch die Kleidung einen Eindruck erzeugt. Und häufig ist der gar nicht falsch. Habit – das ist das Gewand für bestimmte Lebensumstände (z.B. wenn man Trauer trägt), Gelegenheiten (z.B. das weiße Kleid ‚für den schönsten Tag in meinem Leben‘) oder Rollen (Amtsrobe oder Mönchskutte z.B.).

Habitus – das ist dann die zur Gewohnheit gewordene Automatik des Verhaltens, einmal Besenstiel, immer Besenstiel.

Die Autoren loten zunächst die Mehrdeutigkeit von Kleidung aus. Einmal ist sie Verweis auf die sozialen Bezüge, man wird quasi vom Kontext bekleidet, zum anderen ist sie (weit weniger als man meint) individueller Ausdruck einer Person. „Alles hat seinen Sinn“, sagen sie, Kleidung ist nicht einfach Kleidung, sondern etwas Bedeutung Tragendes und Signal, ein Statement. Bereits die Einführung ins Thema ist so stimulierend, dass beim Lesen eine Fülle von Assoziationen ausgelöst wird und sich aus der Erinnerung zahlreiche Begebenheiten einstellen, die man selbst erlebt hat. Im zweiten Schritt wenden sie sich der Berufskleidung zu. Abgesehen vom evidenten Funktionalismus derselben (in der Regel geht es um Schutz) wird aber auch anderes signalisiert – Erkennbarkeit, Adressierbarkeit (als was man angesprochen werden kann), Status (wie bei den Rangabzeichen der ansonsten völlig gleichen militärischen Uniformen) u.a.m. Vielfach haben solche Berufskleidungen eine lange Tradition, sodass man sich gar nicht aussuchen kann, wie man sich kleidet, auch wenn kein explizit formulierter Dresscode vorliegt. Gewollt oder nicht – das ‚Corporate Design‘ einer Firma mit normierten Bekleidungsvorschriften und der impliziten Limitierung der Möglichkeiten individuellen Ausdrucks nähert die Verhältnisse der Goffman‘schen ‚totalen Institution‘ an.

Zauber der Montur

Die Beratungsberufe sind noch nicht so alt, dass sich eine bestimmte ‚Berufsmode‘ hätte herausbilden können. Wir befinden uns daher auf einem relativ freien Gelände der Gestaltbarkeit, ohne einen garantierten ‚Zauber der Montur‘. Als Trainerin oder Berater kleidet man sich eben irgendwie. Aber wie? Hier nehmen sich die Autoren einige Beispiele offenkundig selbst erlebter Situationen vor, wo sie es mit verschiedenen Profis zu tun hatten. Gewissermaßen prototypisch werden „die Supervisorin, der Gruppendynamiker [und] die Unternehmensberaterin“ beschrieben. Wer bei der Lektüre dieses Abschnittes nicht lachen muss, dem ist nicht zu helfen. Persönlich haben sie mich damit erwischt: „Die Kleidung des Gruppendynamikers entzieht sich zunächst jeder Zuordnung. In der Tradition des ‚68iger Diskurses‘ changiert sie zwischen dem Ausdruck jugendlicher Rebellion, gesetzter Autorität und Freizeitlook.“ (S. 57) Abgesehen vom Karikierenden der Beschreibungen zeigen die Autoren auch ein profundes Verständnis der Praxisformen und Techniken, über die sie schreiben.

Das Buch ist mit Witz geschrieben (…)

Nun mag man das Thema Kleidung nicht unbedingt für eines der größten Probleme halten, das die Zunft kennzeichnet, aber auch wenn man kein von übertriebener Eitelkeit geplagter Mensch ist, geht die Frage kaum an einem selbst vorbei, ohne eine gewisse Resonanz zu erzeugen. Das Buch ist mit Witz geschrieben – Witz in der doppelten Wortbedeutung von geistreich und humorvoll – und unterhaltsam. Und es ‚fällt einem dazu viel ein‘. Was kann man Besseres über ein Buch sagen. Ob man will oder nicht, auch Kleidung ist Kommunikation, man kann sich sozusagen nicht nicht anziehen. Was sie sagt, die Kleidung, darauf bewusster das Augenmerk zu legen, über die möglichen Bedeutungsdimensionen nachzudenken und sich um ein Verstehen zu bemühen, diesem Hinweis der Autoren kann man gerne folgen. Ich wünsche den Autoren viele interessierte Leserinnen und Leser.

Dr. Ewald E. Krainz, Prof. für Gruppendynamik und Organisationsentwicklung Univ. Klagenfurt; Lehrtrainer und Lehrberater ÖGGO (Österreichische Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsberatung); zu Philosophie, Arbeitsschwerpunkten und Kontakt siehe www.ewaldkrainz.at